Die Unesco hat das französische Baguette zum Weltkulturerbe erklärt. Nur die Form des Stangenbrots vermochte sie nicht zu erklären. Dabei gibt es durchaus Hypothesen

1896 machte der englische Musikhistoriker Louis Charles Elson eine "seltsame" Entdeckung, wie er notierte: In den Straßen von Paris kreuzte er zur Essenszeit "Hausgehilfinnen, die mit langen Brotstangen unter dem Arm nach Hause eilten".

Daran hat sich bis heute nichts geändert. Am Mittwoch hat die Unesco das 250 Gramm leichte, 40 Zentimeter lange Stangenbrot, ohne das Frankreich nicht Frankreich wäre, in das immaterielle Kulturerbe der Welt eingereiht – ebenbürtig der Chinesischen Mauer oder der Akropolis von Athen.

Der "französische Stolz ist gerettet", kommentierte die Zeitung Le Parisien, und Ähnliches denkt wohl der auf USA-Besuch befindliche Präsident Emmanuel Macron, der für die Welterbe-Kandidatur des Baguette grünes Licht gegeben hatte. Denn wer würde leugnen, dass das Baguette längst nicht nur eine Frage eines Appetits, sondern der Weltanschauung ist? Dass es glücklich macht, sich am Feierabend in die Baguette-Express-Schlange seiner Pariser Boulangerie zu stellen, einen Euro in den Holzteller zu werfen und seine Vorliebe zu nennen – zum Beispiel "bien cuite" (durchgebacken) –, um dann zu Hause ein Stück von der Stange abzubrechen und in die abendliche Suppe zu tunken?

Wie es zur Form kam

Deshalb ehrt die Unesco nicht das Gebilde an sich, sondern die Kultur des Baguettes. Wie es entstanden ist, vermochte das in Rabat (Marokko) versammelte Welterbe-Komitee nicht zu sagen. Die Hauptthese lautet, die französischen Bäcker hätten dünneres Brot backen müssen, weil ihnen die Regierung untersagte, den Ofen vor vier Uhr früh anzuwerfen. Andere führen das leicht zu stapelnde Brot auf die Napoleon-Feldzüge zurück – oder auf den Bau der Pariser Metro.

Auf jeden Fall zelebriert das Baguette die Kunst der Einfachheit. Nur vier Zutaten sind erlaubt – Mehl, Wasser, Salz und Hefe sind erlaubt. Das birgt auch eine Gefahr: Als der Baguette-Preis 1978 freigegeben wurde, schossen in Frankreich Baguette-Fabriken aus dem Boden. Die Zahl der Bäckereien sank von 54.000 auf 35.000. Heute stabilisiert sich diese Zahl dank großer Anstrengungen der traditionellen Boulangerien. Sie folgen einem strikten Pflichtenheft und übertreffen sich mit Baguette-Schöpfungen, sei es die schwerere "flûte" oder die leichtere "ficelle", die "Parisienne" oder die "Tropézienne". Zwölf Millionen Baguette werden in Frankreich täglich verkauft, Tendenz stabil.

Auf dem Land finden sich heute mangels Bäckerei immer mehr Baguette-Apparate. Viele rümpfen darüber die Nase, doch die Dorfbewohner sagen nicht nein, wenn sie am Morgen ein frisches, vom Bäckertransporteur geliefertes Baguette aus dem Schlitz ziehen. Das jetzt auch noch Weltkulturerbe ist! (Stefan Brändle aus Paris, 1.12.2022)